Donnerstag, 9. November 2023

Nach Zugunglück: „Es ist ein Wahnsinn, sich dort niederzulassen“

Dass sich Einwanderer entlang der Flüsse und unter den Brücken oder der Autobahn niederlassen, ist der Gemeinde Bozen bekannt. Doch die Idee, sich entlang der Bahnlinie einen Unterschlupf zu suchen, scheint neu zu sein. Sozialstadtrat Juri Andriollo bezeichnet sie schlichtweg als „Wahnsinn“. Die beiden verletzten Nordafrikaner befinden sich auf der Intensivstation im Bozner Krankenhaus. Während Awad nicht in Lebensgefahr sein soll, besteht für Mohammed (26) offenbar kaum mehr Hoffnung.

2 Einwanderer wurden am Dienstagabend schwer verletzt, als sie vom Zug Frecciarossa erfasst wurden. Sie wollten zu ihrem Nachtlager. - Foto: © Rosario Multari

„Wir waren nicht in Kenntnis darüber, dass sich Einwanderer auf der Bahnstrecke zwischen Bozen-Süd und Boden-Nord angesiedelt haben. Die Männer sind ein großes Risiko eingegangen“, kommentiert Andriollo den Vorfall, der sich am Dienstagabend auf Höhe der Gobettistraße ereignet hat. „Wenn die Männer schon im Freien übernachten wollen, dann gäbe es in der Industriezone sicher viele Orte, die wesentlich sicherer wären, um ein Nachtquartier aufzuschlagen“, glaubt Andriollo.

Warum sich die Migranten nicht an eine der Notunterkünfte gewandt haben, kann Andriollo nur vermuten: „Wir wissen, dass sie tagsüber die Einrichtung im Ex-Alimarket aufgesucht haben, die sich ja in unmittelbarer Nähe befindet. Dort waren sie jedoch nicht auf der Warteliste für einen Schlafplatz. Sie wollten somit nicht in einer Einrichtung untergebracht werden oder wurden vielleicht verwiesen, da sie sich in Vergangenheit problematisch verhalten haben.“

Grundsätzlich, so ergänzt Andriollo zum jüngsten Vorfall, sei für die Bahnlinie und deren Kontrolle die Eisenbahngesellschaft RFI zuständig und nicht die Gemeinde Bozen. Diese war jüngst mehrmals eingeschritten, um jene Migranten zu evakuieren, die sich entlang der Flüsse angesiedelt hatten, zumal der Pegelstand aufgrund der Niederschläge stark angestiegen war.

Es wird vermutet, dass die beiden Männer versucht hatten, noch vor dem relativ langsam fahrenden Zug die Gleise zu überqueren. Das misslang allerdings. Die beiden wurden von dem Zug gestreift und schwer verletzt.

Auf dem ehemaligen Alimarket-Gelände versammelte sich eine große Menschenmenge, zumeist Bewohner des Aufnahmezentrums, die sich teils vor den Toren, teils auf der Straße drängten. Sie berichteten, dass die beiden Verletzten nicht im Ex-Alimarket wohnten, sondern auf der Westseite des Bahndammes in einem Unterschlupf schliefen.

„War seit Wochen auf der Warteliste“

„Mohammed liegt im Sterben, Awad wurde mit schweren Verletzungen ins Bozner Krankenhaus eingeliefert“, schreibt der Verein „Solidarisches Bozen“ in einer Presseaussendung zu dem Zugunglück.

„Mohammed hatte sich vor fast einem Monat an uns gewandt und uns gebeten, ihm zu helfen. Er wollte nicht mehr in der Kälte schlafen, er hatte Angst und ihm war sehr kalt. Wir konnten nicht viel tun, wir haben ihm ein Zelt und Essen zur Verfügung gestellt“, schreibt „Solidarisches Bozen“.

Mohammed sei „ein weiteres Opfer der schlechten Aufnahme in Südtirol, des Bestrebens, jede Form von Armut aus dem Stadtzentrum zu vertreiben. Mohammed und Awad hatten in einem Gebüsch vor den Bahngleisen Zuflucht gefunden, sie hatten sich unsichtbar gemacht, weil sie wussten, dass sie, sobald sie sich dem Zentrum nähern, von den Behörden vertrieben und von Aasgeiern fotografiert werden würden, die auf der Suche nach Ruhm und einem Platz zum Sesselwärmen sind“.

Mohammed habe schon seit Wochen auf der Warteliste für einen Platz in einem Kältenotstandszentrum gestanden, schreibt „Solidarisches Bozen“. „Die Liste ist lang und umfasst zwischen 100 und 200 Personen. Und das ist nichts Neues: Wir wiederholen seit Monaten, dass Hunderte von Menschen auf der Straße schlafen; seit Jahren fordern wir die Eröffnung von Einrichtungen mit langfristigen Projekten, wir wiederholen, dass der Winter keine Überraschung ist und dass jedes Jahr jemand an den Folgen der schlechten Aufnahme in Bozen stirbt.“

Die Entscheidung, ein Aufnahmezentrum im ehemaligen (verlassenen) INPDAP-Gebäude zu eröffnen, komme extrem spät und mit einem Zeitrahmen, der wahrscheinlich über den kommenden Winter hinausgehen werde, kritisiert „Solidarisches Bozen“ und greift Institutionen und Gesellschaft scharf an: „Es ist eine ganz klare Strategie, die Menschen auf der Straße zu lassen, nur ein Minimum an Dienstleistungen anzubieten, diese Menschen zu vertreiben, um Bozen für sie nicht zu einer attraktiven Stadt zu machen. Ein Willkommen gibt es hier nur für Reiche, Touristen und Bauherren, alle anderen müssen hinaus. Oder in ein Abschiebezentrum, ein staatliches Lager.“

Dies sei eine schwierige Zeit, schreibt „Solidarisches Bozen“, das werde die Organisation aber nicht davon abhalten, rassistische und ausgrenzende Politik weiterhin energisch zu bekämpfen.

„Mohammed wurde am 5. November 26 Jahre alt“, heißt es abschließend in der Presseaussendung.

pir

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