Samstag, 21. September 2024

Diesen „Sprit“ braucht Südtirol

„Je effizienter wir wirtschaften, desto eher können wir das Lohnniveau steigern – und damit nicht nur den Wohlstand sichern, sondern auch den sozialen Zusammenhalt stärken.“ Ein Kommentar von „Dolomiten“-Redakteur Rainer Hilpold.

Rainer Hilpold: „Über Geld zu reden, ist oft mit Scham behaftet. Doch das scheint sich zu ändern. Immer mehr Menschen sprechen über ihre Finanzen.“

Und, wie viel verdienst du so? Diese Frage stellt man sich in Südtirol üblicherweise nicht. Über Geld zu reden, ist oft mit Scham behaftet. Doch das scheint sich zu ändern. Immer mehr Menschen sprechen über ihre Finanzen, der Anlass ist meist kein erfreulicher; nämlich die stark geschwundene Kaufkraft vieler Südtiroler.

Die während der Corona-Lockdowns angesparten Rücklagen sind dahingeschmolzen wie Schnee in der Sonne, und die Inflationswelle hat tiefe Furchen in die Haushaltskassen gegraben. Auch wenn die Teuerungsrate inzwischen zurückgegangen ist, bleiben die Preise hoch, während die Löhne nicht Schritt halten. Das belastet den Alltag vieler Familien enorm.

Laut dem Landesinstitut für Statistik (Astat) sind die Reallöhne in der Privatwirtschaft 2022 um fast 7 Prozent gesunken. Das bedeutet einen durchschnittlichen Kaufkraftverlust von rund 2000 Euro brutto im Jahr. Das tut weh. Auch wenn neuere Zahlen für Südtirol fehlen, muss man davon ausgehen, dass dieser Trend 2023 weiterging. Schließlich meldete Italien für das vergangene Jahr einen weiteren Reallohnrückgang von fast 3 Prozent. Natürlich sind solche Zahlen nur Richtwerte, doch sie zeigen eine dramatische Entwicklung auf.

Fleiß im Sinne eines hohen Arbeitspensums ist die eine Sache, Effizienz eine andere.
Rainer Hilpold


Einfach nach höheren Löhnen zu rufen, greift jedoch zu kurz. So verständlich der Wunsch ist, viele Unternehmen können sich Lohnerhöhungen schlicht nicht leisten. Ihnen fehlt dafür der nötige Spielraum. Dieser Spielraum würde durch eine höhere Produktivität entstehen – ein altbekanntes Phänomen in Südtirol, das aber nur langsam vorankommt. Fleiß im Sinne eines hohen Arbeitspensums ist die eine Sache (die Südtiroler arbeiten im Schnitt deutlich mehr als die nördlichen und südlichen Nachbarn), Effizienz eine andere. Bildlich gesprochen, ist Letztere die Achillesferse der Südtiroler Wirtschaft.

Die Arbeitsproduktivität muss aber steigen, damit Lohnerhöhungen in spürbarem Umfang überhaupt und auch längerfristig möglich werden. Das ist freilich leichter gesagt als getan, hängt sie doch von vielen Faktoren ab: von der Branche, der Betriebsgröße, der Technologieoffenheit, ja auch von der Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie neuen Arbeitsmodellen – alles Bereiche, in denen Südtirol im Schatten anderer Alpenregionen steht. Die Frage sollte also nicht nur lauten, wie Löhne steigen können, sondern wie Südtirol effizienter, innovativer und wettbewerbsfähiger wird. Nicht zuletzt, um qualifizierte Arbeitskräfte von außen anzulocken bzw. die Abwanderung zu begrenzen, die sich ansonsten wohl weiter verstärken wird.

Gerade hochproduktive Sektoren wie die Industrie können beim Produktivitätswachstum eine wichtige Vorbildwirkung ausüben. Sie haben bereits bedeutende Fortschritte in Richtung Automatisierung und Künstliche Intelligenz gemacht – wichtige Hebel, wenn es um mehr Arbeitsproduktivität geht. Dennoch stehen sie überraschend wenig im öffentlichen Fokus, wie überhaupt das gesamte Thema, das im politischen Diskurs so gut wie gar nicht stattfindet.

Produktivität ist der „Sprit“, den Südtirol mehr denn je benötigt, auch im Hinblick auf die demographische Falle, auf die wir zusteuern: Je effizienter wir wirtschaften, desto eher können wir das Lohnniveau steigern – und damit nicht nur den Wohlstand sichern, sondern auch den sozialen Zusammenhalt stärken. In Zeiten wie diesen sollte das unser vorrangiges Ziel sein.

rainer.hilpold@athesia.it

stol

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